Die europäische Außengrenze gilt als die tödlichste Grenze der Welt. Laut der International Organization for Migration (IOM) wurden seit 2014 bei Migrationsbewegungen nach Europa insgesamt mehr als 34.000 Migrant:innen als verstorben oder vermisst gemeldet. Mehr als 30.000 Menschen ertranken in diesem Zeitraum im Mittelmeer bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen. Zahlen, die erschüttern – sind es doch keine Zahlen, sondern Menschen mit ihren Geschichten, Sehnsüchten und Träumen, und die die Hoffnung nach einem Leben in Sicherheit und Freiheit in Europa mit dem Leben bezahlen mussten.
Doch wer Menschen bei ihrer Flucht in die EU unterstützt, wer Menschen, die über das Mittelmeer fliehen und dabei in Seenot geraten, vor dem Ertrinken schützt, wer Menschen in den Wäldern und Sümpfen an den Landgrenzen der EU mit Lebensmitteln oder Medikamenten versorgt, muss damit rechnen, deswegen vor Gericht gestellt zu werden. Insbesondere, wenn diese Menschen selbst Geflüchtete sind, drohen ihnen z.T. exorbitant hohe Geld- oder Haftstrafen.
Seenotrettung und Flucht werden kriminalisiert
Immer wieder stehen Seenotretter:innen, aber besonders oft auch Geflüchtete selbst in Griechenland, Italien und Malta vor Gericht – sie werden als Schleuser:innen angeklagt, weil sie ein Fluchtboot gesteuert oder sich und ihre Mitinsass:innen vor dem Ertrinken bewahrt haben.
Die wenigsten Verfahren verlaufen dabei so glimpflich wie der Fall der IUVENTA-Crew, deren Seenotrettungsschiff im August 2017 von italienischen Behörden beschlagtnahmt wurde, und die nun nach 2jähriger Verhandlung im April 2024 vom Vorwurf der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ freigesprochen wurde. Oder wie die Geschichte der Mardini-Schwestern, zwei Leistungsschwimmerinnen aus Syrien: Sie brachten bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ihr vor der griechischen Küste in Seenot geratenes Schlauchboot mit 18 Personen an Bord schwimmend an Land und bewahrten es somit vor dem Kentern. Ihr Mut bewegte so sehr, dass ihre Fluchtgeschichte sogar verfilmt wurde.
In der Regel werden nur wenige der Anklagen gegen Geflüchtete öffentlich und bekommen darüber Gehör und Unterstützung, häufig verschwinden die als „Schmuggler“ Angeklagten hinter Gefängnismauern, manchmal sogar ohne dass ihre Angehörigen vom Wo und Wie erfahren.
Europa schottet sich ab: Bekämpfung von Solidarität
In Polen werden seit 2021 unter dem Vorwand, sogenannte „Schleuserstrukturen“ zu bekämpfen, zivilgesellschaftliche Akteur:innen, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet humanitäre Hilfe leisten, kriminalisiert, eingeschüchtert, strafrechtlich verfolgt und überwacht. So stehen aktuell bspw. 5 Pol:innen, bekanntgeworden als die „Hajnowka5“, wegen „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt in Polen“ vor Gericht. Sie hatten im März 2022 in den Wäldern nahe der Belarussischen Grenze mehrere Geflüchtete mit Nahrung und warmer Kleidung versorgt. Später wollten sie sie mit einem Auto in eine nahegelegene Stadt bringen. Die Anklage stützt sich auf einen Paragrafen, der in erster Linie auf Menschenschmuggel abzielt. Bei einer Verurteilung würde dies bis zu fünf Jahre Haft bedeuten.
Dass unter dem Deckmantel der „Bekämpfung von Schleuserstrukturen“ auf nationaler wie auch europäischer Ebene die Grenze zwischen gewerbsmäßigem Schleusertum und Solidarität mit People on the Move mehr und mehr verschwimmt, ist kein Zufall, sondern ein Element der auf Abschottung abzielenden Migrationspolitik der EU.
Dabei ist zum Einen die Frage, ob die Beihilfe zur Einreise als Schleusertum oder Fluchthilfe, als kriminell oder humanitär gedeutet wird, keine Naturgegebenheit: Sie ist ähnlich verschieblich und abhängig vom Kontext, von der Perspektive und der politischen Windrichtung wie die An-oder Aberkennung der Fluchtmotive und wie die Grenzen selbst, die gezogen oder überschritten werden.
So wurden Menschen, die während der NS-Zeit jüdischen Menschen zur Seite standen und sie bei ihrer Flucht vor dem Naziregime unterstützten, wenn auch zum Teil erst sehr viel später, aber doch juristisch wie auch medial rehabilitiert, z.T. sogar ausgezeichnet. Die Flucht aus der DDR in die BRD wurde in den ersten Jahren von der westdeutschen Bundesregierung sogar unterstützt, wenn auch nur verdeckt. Selbst gegen Entgelt arbeitende Fluchthilfe wurde damals nicht als Verstoß gegen die „guten Sitten“ angesehen und unterlag auch keinem gesetzlichen Verbot. Fluchthelfer:innen wurden als Held:innen gefeiert – bis sich der Wind drehte und Fluchthilfe der aufkommenden Entspannungspolitik nicht mehr in den Kram passte.
Wer Schleuserkriminalität bekämpfen will, muss sichere Fluchtwege schaffen
Zum Anderen wäre eine wirklich ernstgemeinte Bekämpfung von sog. Schleuserkriminalität so einfach: Gäbe es keine Grenzen und gäbe es sichere Fluchtwege, würde von jetzt auf gleich kein:e Schleuser:in mehr einen einzigen Cent verdienen. Es wird nicht umsonst als „Flucht-“ oder „Asylparadox“ bezeichnet, dass Menschen zunächst das Recht brechen, nämlich „illegal“ Grenzen passieren müssen, um zu ihrem Recht auf Asyl zu kommen bzw. „ordnungsgemäß“ einen Asylantrag stellen zu können. „Der besondere Unterstützungsbedarf bei der Flucht und der Dienstleistungsmarkt Fluchthilfe sind überhaupt erst geschaffen worden, da die Staaten des Globalen Nordens kaum legale Einreise- und Durchreisewege für Geflüchtete eröffnet bzw. bestehende geschlossen haben“ (Inventar der Migrationsbegriffe).
Aktuell schaffen auch in Deutschland genau die politischen Kräfte, die das Unwesen der sogenannten Schleuserkriminalität hochstilisieren und dabei gerne auch gleichsetzen mit Menschenhandel, nun auch noch die letzten verbleibenden legalen und damit sicher(er)en Fluchtwege nach Deutschland ab, indem sie den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte beschneiden/aussetzen, humanitäre Aufnahmeprogramme beenden und sogar bereits zugesicherte Aufnahmezusagen zurücknehmen wie gegenüber den Menschen aus Afghanistan, die ihre Zusammenarbeit mit den deutschen Institutionen nun unter den Taliban mit Verfolgung, Folter und Tod bezahlen müssen. Und obwohl damit die Möglichkeiten der sogenannten „regulären“ Migration immer mehr beschnitten und nur noch handverlesenen Menschen aus Drittstaaten offen stehen, wird der Begriff der sogenannten „irregulären Migration“ mehr und mehr zum Kampfbegriff und zum Instrument der Stigmatisierung und Kriminalisierung derer, die das Recht brechen müssen, um zu ihrem Recht zu kommen.
Daher: Solange es Fluchtgründe gibt, werden Menschen fliehen. Und auch wenn es keine sicheren Fluchtwege gibt, werden sie es trotzdem tun, denn niemand flieht freiwillig, sondern aus der Not heraus. Aber solange es keine sicheren Fluchtwege gibt, werden sie dabei Unterstützung und Hilfe benötigen. Sie dabei zu unterstützen und vor Hunger und Not, vor dem Erfrieren oder dem Ertrinken zu bewahren, kann kein Verbrechen sein, sondern ist ein Gebot der Menschlichkeit und der Solidarität. Je weiter die Abschottung Europas vorangetrieben wird, desto gefährlicher werden die Wege, die Menschen auf der Flucht beschreiten müssen, und desto mehr werden Seenotrettung, Unterstützung und Hilfe zu Lande, wird Solidarität zur Pflicht.
Deshalb: Grenzen auf – zu Land, zu Wasser und im Kopf!
Wer „Stoppt die AFD“ sagt, darf zum Rassismus der gesellschaftlichen Mitte nicht schweigen.
Setz Dich mit uns ein für das Recht aller Menschen, zu kommen, zu gehen und zu bleiben. Denn: Menschenrechte sind unteilbar.
Statt Abschottung und Panikmache brauchen wir sichere Fluchtwege und gleichberechtigte Teilhabe für alle!
Seebrücke Frankfurt
mail@seebruecke-frankfurt.de
Quellen:
- https://missingmigrants.iom.int/region/europe (aufgerufen am: 1.9.2025)
- https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/WeltGemeinde/Gemeindematerial/hilfe-fluechtlinge/gefahren_auf_der_flucht.pdf(aufgerufen am: 1.9.2025)
- https://germany.iom.int/de/news/iom-bericht-mehr-als-5000-todesfaelle-auf-europaeischen-migrationsrouten-seit-2021(aufgerufen am: 1.9.2025)
- https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean (aufgerufen am: 1.9.2025)
- https://iuventa-crew.org/de/ (aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Yusra_Mardini (aufgerufen am: 26.8.2025)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Carola_Rackete (aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://iuventa-crew.org/en/context/linked-cases/ (aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/vom-lybischen-fu%C3%9Fballplatz-ins-italienische-gef%C3%A4ngnis-freiheit-f%C3%BCr-die-vier-fu%C3%9Fballer?l=de(aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://www.dw.com/de/prozess-in-polen-angeklagt-f%C3%BCr-humanitaere-hilfe-fluechtlingshelfer-migration-hajnowka-f%C3%BCnf-h5-v2/a-72260789(aufgerufen am : 3.8.2025)
- https://bsky.app/profile/valeriahaensel.bsky.social/post/3lshqlynl4c2u (aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://www.medico.de/blog/retten-als-verbrechen-20076 (aufgerufen am: 3.8.2025)
- https://www.instagram.com/tagesspiegel/p/DIdQvQ3hqVt/?locale=pt_BR&hl=ar)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Schleusungskriminalit%C3%A4t
- https://de.wikipedia.org/wiki/Fluchthilfe (aufgerufen am: 26.8.2025)
- https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/epochen/zeitgeschichte/ns/widerstand/widerstandbodensee/ab17.pdf(aufgerufen am: 26.8.2025)
- https://www.stsg.de/cms/bautzen/aktuelles/ehemalige-fluchthelfer-erhalten-das-bundesverdienstkreuz(aufgerufen am: 26.8.2025)
- https://www.migrationsbegriffe.de/fluchthilfe (aufgerufen am: 26.8.2025)
- Frankfurter Rundschau 28.6.2025: Bundestag setzt Familiennachzug aus.
