„Pro Tag stirbt ein Kind im Mittelmeer“ überschrieb die Frankfurter Rundschau am 16.4.2025 ihren Artikel über den Unicef-Bericht zur Situation minderjähriger Geflüchteter: Unicef zufolge seien sind in den letzten 10 Jahren insgesamt mindestens 3500 Kinder bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen oder verschollen – die Dunkelziffer liege aber wahrscheinlich viel höher. Laut IOM (Internationale Organisation für Migration) seien seit 2014 insgesamt ca. 22.000 Menschen auf dem Mittelmehr als gestorben oder vermisst registriert. Menschen, die nichts anderes suchen, als Frieden, Sicherheit, Schutz und Lebensperspektiven für sich und ihre Familien. Das Mittelmeer gilt als die gefährlichste Grenze der Welt. Und dennoch begeben sich quasi täglich Menschen auf diese gefährliche Reise in oft seeuntüchtigen Booten, da die Not sie dazu zwingt. Und weil es faktisch keine legalen Zugangs- und Fluchtwege nach Europa gibt.
Pushbacks statt Seenotrettung – die EU setzt auf Abschottung
Obwohl es eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Rettung in Seenot geratener Menschen gibt, findet seit 2019 keine staatliche Seenotrettung seitens der EU mehr statt. Stattdessen konzentriert sich die EU auf die Aufrüstung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache FRONTEX, die u.a. mit ihrer Tolerierung, z.T. aber auch ihrer Beteiligung an Pushbacks, dem Zurückdrängen von Geflüchteten, die es bereits in küstennahe Gewässer oder sogar an die Küste geschafft haben, immer wieder negative Schlagzeilen macht. Im zentralen Mittelmeer ist es gängige Praxis, dass Boote mit Migrant:innen und Geflüchteten an die sog. „libysche Küstenwache“ gemeldet werden, die berüchtigt ist für ihre z.T. brutalen gewaltvollen Aktionen gegen Geflüchtete auf See, die deren Boote attackiert, in illegaler Weise zurückdrängt und die Menschen nach Libyen zurückbringt, wo sie in den dortigen Lagern inhaftiert und Elend, Folter, Versklavung, physischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Dies widerspricht Art. 33 der Genfer Fluchtkonvention, der die Zurückweisung von Geflüchteten in Gebiete untersagt, wo deren Leben und Freiheit bedroht ist.
Menschen auf der Flucht werden zum Spielball zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen
Weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit sind die Fluchtrouten in Osteuropa: Trotz massiver Militärpräsenz und Aufrüstung sowie der Errichtung einer 186 Kilometer langen und 5,5 Meter hohen Stahlmauer mit Überwachungssystem und Bewegungsmeldern versuchen viele schutzsuchende Menschen, die Grenze zwischen Belarus und Polen zu überqueren. Sie erfahren dabei auf beiden Seiten der Grenze brutale Gewalt und stecken oft für Wochen oder Monate in den sumpfigen Wäldern fest, werden zerrieben zwischen polnischem Grenzschutz und belarussischem Militär, sind brutalen Pushbacks und Misshandlungen von beiden Seiten ausgesetzt, in deren Folge regelmäßig Menschen zu Tode kommen oder verschwinden. Die polnische Regierung wirft Belarus vor, Migrant:innen legal nach Belarus einreisen zu lassen und sie gezielt an der Grenze zu Polen auszusetzen, um die EU zu destabilisieren – und begründet damit im März 2025 ihre Entscheidung, das Asylrecht auszusetzen. Damit verstößt Polen nicht nur gegen europäisches und internationales Recht. Hier werden Menschen auf der Flucht zum politischen Spielball gemacht!
Auch im Grenzgebiet zwischen Litauen und Belarus kommt es immer wieder zu brutalen Pushbacks. Humanitäre Organisationen und Journalist:innen werden vom Betreten des Grenzgebiets abgehalten.Im Mai 2023 trat in Litauen ein Gesetz in Kraft, welches Pushbacks legalisiert, Menschen auf der Flucht das Recht verweigert, einen Asylantrag zu stellen, und damit eindeutig gegen internationales Recht verstößt.
Brüche internationalen Rechts, Brüche europäischer Prinzipien und militärische Aufrüstung – für Abschottung ist jedes Mittel recht
Die Liste der Menschenrechtsverletzungen gegenüber People on the Move an Europas Außengrenzen ließe sich noch weiter fortsetzen. Abschottung hat eine so hohe Priorität, dass es hier scheinbar keine Tabus mehr gibt: Internationales Recht und die in Abkommen wie der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Menschenrechtscharta festgeschriebenen Selbstverpflichtungen der Staaten werden mit Füßen getreten. Und über die Wiederaufnahme innereuropäischer Grenzkontrollen wird mittlerweile auch die einst als „größte [europäische] Errungenschaft“ gefeierte, und nicht zuletzt auch den Ausbau des „Schutzes“ der EU-Außengrenzen rechtfertigende Bewegungs- und Reisefreiheit innerhalb der EU aufs Spiel gesetzt.
Auch hinsichtlich der finanziellen Kosten scheint der EU auf ihrem Abschottungskurs keine Maßnahme zu teuer zu sein: Statt die bereitgestellten Mittel in sichere Fluchtwege, in menschenwürdige Aufnahme, in Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten zu investieren, werden die Mauern um Europa höher und höher gebaut. Für 2025 stehen FRONTEX 1.124 Millionen Euro zur Verfügung – damit hat sich das Budget der 2004 gegründeten Agentur über ihr 20jähriges Bestehen ver187facht! – und bis 2027 soll der Personalbestand der Agentur auf bis zu 10.000 Mitarbeiter:innen in Reserve ausgebaut werden. Und obwohl diese jetzt schon größte Behörde der EU dadurch noch größer werden und mehr Kompetenzen bekommen soll, fehlt eine „effektive menschenrechtliche Kontrolle“ (ProAsyl). Es fehlen noch immer Klagemöglichkeiten bei Menschenrechtsverletzungen – obwohl Medien und NGOs bereits seit Jahren darauf hinweisen, dass FRONTEX bei Einsätzen an den EU-Außengrenzen die Menschenrechte nicht einhält, und Berichte über ein systematisches Nichteingreifen der EU-Behörde an den EU-Außengrenzen zur Rettung von Menschenleben nicht abreißen.
Der Bundesregierung sind die Grenzen damit nicht schon „geschützt“ genug: Seit September 2024 kontrolliert die Polizei an den deutschen Landesgrenzen – großenteils Grenzen zu anderen EU-Ländern. Pro Quartal lässt sich das Bundesinnenministerium die Kontrollen 24 bis 29,1 Millionen Euro kosten, den größten Posten machen hierbei die Überstunden der Polizist:innen aus. Und dank Dobrindt hat nun die Bundespolizei die Kontrollen ab Mai 2025 noch weiter intensivieren müssen. Diese verschärften Grenzkontrollen und die Zunahme von Zurückweisungen bspw. an der Deutsch-Polnischen Grenze haben nicht nur Grenzkontrollen auch vonseiten des Nachbarlandes losgetreten, sie haben in Polen rechten Kräften in wahlentscheidender Weise Aufwind gegeben und Patrouillen von Rechtsradikalen „Bürgerwehren“ auf den Plan gerufen. Vor allem aber verstoßen viele dieser Zurückweisungen von Geflüchteten dort gegen geltendes Recht: So hat bspw. das Berliner Verwaltungsgericht im Juni 2025 im Fall von drei zurückgewiesenen Somalier:innen bestätigt, dass eine Rückweisung ohne vorherige Prüfung, welcher EU-Staat für das Asylgesuch zuständig sei, rechtswidrig sei.
Schaut man auf die innerdeutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik, gerät man auch hier ins Staunen, was es sich die Bundesrepublik kosten lässt, es Geflüchteten so ungemütlich wie möglich zu machen: Statt ankommenden Geflüchteten die Möglichkeit zu geben, sich selbst eine Unterkunft zu suchen, bei Freund:innen oder Verwandten unterzukommen, wie es zu Beginn des Ukraine-Kriegs für Ukrainer:innen möglich war, müssen sie z.T. monatelang in Massenunterkünften wohnen, in denen ihrer besonderen Verletzlichkeit aufgrund ihrer Erfahrungen vor und während der Flucht nicht angemessen Rechnung getragen wird, und die dazu auch noch enorm teuer sind: So kostet bspw. ein Platz in der Berliner Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen Tegel 260 Euro – pro Tag (!), und das bei katastrophalen hygienischen Verhältnissen, Großküchenessen und fehlender Privatsphäre.
Der neueste Schrei in puncto Diskriminierung Geflüchteter und Verweigerung von gleichberechtigter Teilhabe ist die Einführung der sog. Bezahlkarte, auf die die bisher bar ausgezahlten Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts (nach Asylbewerber:innen-Leistungsgesetz) von Asylbewerber:innen gebucht werden, und die sich u.a. dadurch auszeichnet, dass sie nur monatlich einen geringen Betrag an Barauszahlung – in der Regel 50 Euro – möglich macht. Nicht nur, dass es die Menschen von vielen Einkaufs- und Teilhabemöglichkeiten ausschließt, wenn sie nur 50 Euro pro Monat in bar zur Verfügung haben, und ihnen in bevormundender Weise das Recht genommen wird, selbst über ihr Geld zu verfügen. Es entstehen den Städten und Kommunen auch immense Kosten: für Berlin hat ProAsyl ausgerechnet, dass die Kosten für die Bezahlkarte bei 5 Millionen Euro liegen werden, während bisher die Ausgabe von Sozialleistungen 366.000 Euro gekostet habe.
Argumente um „Belastbarkeit“ sind vorgeschoben, denn die Belastung durch „Grenzschutz“ wird ausgeblendet
Diese hohen finanziellen, personellen, außen- und innenpolitischen Kosten der deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik zeigen eins: es geht hier nicht um die Frage der „Belastbarkeit“ oder der „Überlastung“ Europas durch die Aufnahme von Geflüchteten, sondern um eine von Rassismus getragene Abschottung zur Sicherung der globalen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse auf Kosten des sog. Globalen Südens. Und allen, die vor dem, was imperiale Kriege, historische und aktuelle Formen von Kolonialismus oder der durch die Industrienationen verursachte Klimawandel anrichten, fliehen müssen, wird vonseiten Europas mit menschenverachtender Härte auf die Finger gehauen.
Wir sagen: Schluss damit! Alle Menschen haben das Recht auf ein Leben in Frieden, Sicherheit und Würde, auf Unversehrtheit und selbstbestimmte Teilhabe. Und daher auch das Recht, dorthin zu gehen, wo sie für sich die besten Lebensmöglichkeiten erhoffen.
Deshalb: Grenzen auf – zu Land, zu Wasser und im Kopf!
Wer „Stoppt die AFD“ sagt, darf zum Rassismus der gesellschaftlichen Mitte nicht schweigen.
Setz Dich mit uns ein für das Recht aller Menschen, zu kommen, zu gehen und zu bleiben. Denn: Menschenrechte sind unteilbar.
Statt Abschottung und Panikmache brauchen wir sichere Fluchtwege und gleichberechtigte Teilhabe für alle!
Seebrücke Frankfurt
mail@seebruecke-frankfurt.de
Quellen:
- Pro Tag stirbt ein Kind im Mittelmeer – Unicef legt Bericht zur Situation minderjähriger Flüchtlinge vor. Frankfurter Rundschau, 16.4.2025
- https://www.dw.com/de/verloren-im-niemandsland-fl%C3%BCchtlinge-an-der-belarussisch-polnischen-grenze/a-62349252
- https://www.dw.com/de/zaun-stacheldraht-w%C3%A4rmekameras-polens-grenze-zu-belarus/a-71321401
- https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-asylrecht-an-belarus-grenze-eingeschraenkt-110382663.html
- https://www.proasyl.de/pressemitteilung/pushbacks-mit-ansage-polen-beschliesst-aussetzung-des-asylrechts/
- https://www.proasyl.de/pressemitteilung/pro-asyl-ist-entsetzt-litauen-legalisiert-pushbacks/
- https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schengen-40-jahre-100.html
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1172183/umfrage/budget-der-europaeischen-agentur-fuer-die-grenz-und-kuestenwache-frontex
- https://www.proasyl.de/news/frontex-eine-grenzschutzagentur-der-superlative/
- https://www.seebruecke.org/mach-mit/deutschland/hessen/frankfurt-am-main
- https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2022/10/frontex-leak-olaf-bericht
- https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-08/grenzkontrollen-polizei-kosten-millionen-ueberstunden
- https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/polen-grenzkontrollen-124.html
- Bundespolizei klagt über Belastung. Frankfurter Rundschau 4.6.2025
- Warschau reagiert gereizt. Der polnische Grenzschutz beschwert sich bei der Bundespolizei über das Vorgehen bei Zurückweisungen. Frankfurter Rundschau 5.7.2025
- Fataler Domino-Effekt. Frankfurter Rundschau 8.7.2025
- Streit um Zurückweisungen. Kritik am Vorgehen der Union/Pro Asyl sieht „Kampagne“. Frankfurter Rundschau 11.6.2025
- https://taz.de/Bundesweit-groesste-Gefluechtetenunterkunft/!6018899
- https://www.proasyl.de/news/so-laeuft-das-nicht-die-lange-liste-der-probleme-mit-der-bezahlkarte/
- https://hessensagtnein.de/
- https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/fis/publikation_pdf/FA-6050.pdf
